Samstag, 30. Dezember 2017



Lehrer im Westen - Lehrer im Osten

Wenn heute der Begriff "Lehrer" oder "Lehrperson" in den Medien auftaucht, dann handelt es sich meistens um eine Analyse des Status Quo dieses Berufsstandes und weniger um eine Diskussion zum eigentlichen Rollenbild dieses Berufs.
In Folgendem soll es um Letzteres und zudem Weiteres gehen:
Was unterscheidet den Lehrer, wie wir ihn alle aus eigener Erfahrung kennen im Westen vom jöstlichen Konzept des "Lehrenden", das durch Gebiete wie Buddhismus, Yoga oder eben Kampfkunst  auch Einzug in unsere Breiten gehalten hat.
Der Lehrer in den westlichen Industrienationen findet sich vor allem als Beruf des "Schullehrers"
Oft kolportiert und zum Klischee fast schon degradiert, ist er uns allen während unserer Schulzeit begegnet: Mit positiven oder leider oft negativen Erinnerungen behaftet.
Allerdings geht es in diesem Beitrag auch nicht um eine Korrektur des Schullehrers, sondern um dessen Funktion.
Die primäre Aufgabe des Lehrers ist die Wissensvermittlung.
Auf höhrerer Schulbildung, d.h. ab der Gymnasialzeit sollte die Lehrperson das kritische und selbständige Denken der Lernenden im Fokus haben. Dies bedeutet gleichzeitig auch eine notwendige Konfrontation: Nur dadurch kann der Schüler lernen eine eigene Meinung zu entwickeln und diese auch angemessen vertreten zu können. Dieses Konzept geht auf das Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert zurück in welcher sich die Kulturschaffenden  Europas von der Vormundschaft der Kirche philosophisch zu emanzipieren suchten, indem sie die "ratio", die Vernunft als Mass aller Dinge postulierten und so den Glauben in eine Nische zu drängen suchten.
"Cogito ergo sum" verkündete der berühmteste aller Aufklärer René Descartes: "Ich denke, also bin ich" - Rationale Auseinandersetzung mit mir und der Welt um uns. Eine Bewegungen, die wie keine andere dem Weltverständnis des Westens ihren Stempel aufgedrückt hat - und das bis heute.
Zurück zum Verständnis vom Lehrer im Westen: Nebst Wissensvermittler regt er im besten Fall  den kritischen Diskurs an um seine Schülerinnen und Schüler zur geistigen Mündigkeit zu verhelfen.
"Guru" (Indien / Tibet), "Sifu" (China), "Sensei" (Japan) sind die heute noch gebräuchlichen Anreden für "Lehrer" im Osten.
Schaut man sich die Bedeutung der verschiedenen Begriffe näher an, wird klar, dass die Rolle des Lehrers in östlichen traditionellen Disziplinen über die Wissensvermittlung hinausgeht. Der Term "Guru" hat seinen Ursprung in den alten vedischen Texten, findet sich aber nicht nur in Indien, sondern auch in weiten Teilen Südostasiens. Ein "Guru" ist mehr als ein Wissensvermittler; wenn er einen Schüler annimmt, dann übernimmt er gleichwohl die Verantwortung für den Adepten.
Er fungiert dabei als eine Art Vater/Mutter oder intimer Berater für den Geist und die spirituelle Entwicklung des Schülers.
"Sifu" ist ein chinesischer Begriff, der am besten mit "väterlicher Lehrer" übersetzt wird. Ein weiterer gebräuchlicher Term in chinesischen Disziplinen ist "Laoshi" oder "alte Person mit Kunstfertigkeit" (old person of skill).
"Sensei", die gebräuchlichste Anrede für Lehrpersonen in jedem Feld in Japan bedeutet wörtlich übersetzt "Eine Person, die vorher geboren wurde".
Anmerkung: Es ist heute in der Kampfkunstszene keine Seltenheit, dass sich Lehrende selbst als "Sensei" bezeichnen. In Japan würde dies Befremdung, im besten Fall kopfschüttelndes Schmunzeln auslösen, da Sensei ein Ruftitel ist. Wenn sich Karatelehrer Karl Schwarzfaust als "Sensei Schwarzfaust" vorstellt, dann formuliert er durchaus ein philosophisches Problem, denn er bezeichnet sich als jemand, der vor sich selbst geboren wurde...

Im Begriff "Tradition", der heute von Körper-Geist-Systemen schon fast inflationär und meist zu Marketingzwecken gebraucht wird, steckt das Lateinische "tradere", welches wörtlich übersetzt "herüber-geben" bedeutet. Wissen wird über Jahre, Jahrzehnte und oft auch Jahrhunderte "herüber-gegeben", von einer Generation zur nächsten. Vor einigen Wochen bin ich aus Indien zurückgekommen, wo ich der 800 Jahr- Feier einer Richtung des tibetischen Buddhismus beiwohnen durfte, deren Mitglied ich bin: Von Generation zu Generation wurden die Lehren dieser Schule weitergegeben.
In Japan studierte ich in den 90er Jahren  eine synkretische Form des "Ko-Budo": Neun moderne und alte Schulen zusammengefasst in einem System. Ein Teil dieses Systems bestand aus der "Kukishinden Ryu Happo Hikenjutsu" (frei mit "Die Schule der neun Dämonen-Götter" übersetzt), einer Samuraischule, die sich bis zum Jahre 1318 zurückverfolgen lässt. Dabei ist der Begriff "Ryu" (jap. für Schule) interessant: Das Schriftzeichen für Ryu - beinhaltet die Assoziation zu Wasser - (Ryu-to z.B. ist das japanische Ritual bei welchem Laternen in Flüsse gesetzt werden um während der Sommerfestivalzeit die Toten zu ehren) Wissen, dass aus der Vergangenheit in die Gegenwart und dann in die Zukunft fliesst.
Meine heutige Hauptdisziplin das Gao Ba gua besitzt ebenfalls eine solche ungebrochene Zeitlinie und steht heute in der achten Generation.
Vom Blickwinkel der Tradition aus gesehen ist der Lehrer das Gefäss, durch welches das Wissen aus der Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft weitergereicht wird. Dieser Umstand macht auch den grössten Unterschied zwischen der Lehrerrolle im Westen und die in den traditionellen Künsten im Osten aus: Der Guru/Sifu/Sensei ist alles. Ohne ihn gibt es kein Wissen, keine Tradition. Er ist nicht nur Vermittler, sondern auch Bewahrer und vor allem verantwortlich dafür, dass die Schule weiterlebt: Dies ist die Aufgabe und manchmal auch Bürde, die er auf sich genommen hat, als er in die Schule initiert wurde, als ihm die innersten Techniken und Prinzipien gelehrt wurden, als er die volle Lehrbefugnis erhielt.
Ich habe immer wieder von meinen Lehrern gehört, dass es reichen würde, wenn nur jemand, eine einzige Person, die Essenz der Schule be-greifen würde. In der japanischen Ryu-Tradition wird die gesamte Schule fast immer an nur eine Person weitervererbt, während in den chinesischen Systemen meist mehrere Schüler die gesamte Überlieferung erhalten können.
Im tibetischen Buddhismus, dem Vajrayana ist Guru-Yoga, die Meditation auf den Lehrer und den Stammbaum eine der Nöngdro, eine der grundlegenden Übungen. Da der Guru oder tib. Lama nicht nur die Lehren der Schule, sondern auch die Buddhanatur verkörpert, wird ihm besondere Verehrung entgegengebracht; bis in die 50er Jahre wurde der tibetische Buddhismus deshalb im Westen auch als  "Lamaismus" bezeichnet.
In Japan ist das Wort des Sensei im Dojo absolutes Gesetz. Kritische Fragen oder gar Klagen ("wie kann ich mir das merken, es ist so schwer", "geht das nicht einfacher?") verstossen gegen jegliche Dojoetikette.
Mein chinesischer Lehrer pflegte auf mein gelegentliches Jammern bei schweren Bewegungen lediglich mit einem "That`s your problem" zu antworten.
Darin unterscheidet sich die Rolle des Sensei/Sifu auch von dem eines Kampfsport-/Fitness- oder gar Persontrainers, der an hohen Schülerzahlen interessiert ist und daher - meist um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten - auch sogenannt "kundenorientiert" agiert.
Traditionelle Systeme basieren in ihrem Lehrer-Schüler Verhältnis vor allem auf Vertrauen, da sie eine grosse Portion Gehorsam vom Schüler verlangen. Einerseits kann nur dann das Wissen entsprechend tradiert, also "herüber gegeben" werden, andererseits öffnet sich hier aber auch eine immense Lücke für Missbrauch seitens des Lehrers.

"With great power comes great responsibility" ( Uncle Ben in "Spider Man")

Leider finden sich immer wieder Fälle von Vertrauens- und damit auch Machtmissbrauch in traditionellen Systemen:
So erhärteten sich dieses Jahr schwere Vorwürfe punkto Verschwendungssucht, körperliche Gewalttaten und sexuellen Missbrauchs gegenüber Sogyal Lakar, einem der populärsten Lehrer des tibetischen Buddhismus, sodass der Dalai Lama verlauten liess, dass Sogyal den Buddhismus beschmutzt und Sogyals Taten öffentlich gemacht werden sollen.
Auch in der Kampfkunst finden sich immer wieder Fälle von physischem und psychischem Missbrauch. Wer sich für dieses Thema näher interessiert, dem sei Ellis Amdurs brilliantes Buch "Dueling with O Sensei - Grappling with the Myth of the Warrior Sage" als Lektüre empfohlen.
Auch wenn die traditionelle Lehrer - Schüler Beziehung in östlichen Traditionen beidseitige Hingabe erfordern, bedeutet es vor allem für westliche Schüler nicht, dass sie ihre Denkfähigkeit deshalb aufgeben sollten.
Ich habe zu oft - und  leider immer noch - im Umgang mit asiatischen Lehrern eine Unterwürfigkeit erlebt, dich mich immer wieder sprachlos macht: Da verwandeln sich anscheinend intelligente und selbstbewusste Personen in sabbernde Cretins und hoffen wahrscheinlich insgeheim dadurch, dass die Fähigkeiten des betreffenden Lehrers wie von Zauberhand auf sie übergehen werden.
Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich mich aus Respekt vor der Tradition und der Rolle des Lehrers darin mit Würde verbeuge  oder ob ich mich UNTERwerfe und damit jegliche Power meinem Gegenüber übergebe.
An dieser Stelle eine Warnung an alle diejenigen, welche an traditionellen asiatischen System jeglicher Art interessiert sind: Blossstellungen, physischer oder psychischer Machtmissbrauch und sexuelle Ausbeutung dürfen NIE auch nur ansatzweise toleriert werden, sondern sollten oder müssen gar publik gemacht werden (was heute durch die Social Media ja einfach ist...)

Wie sieht es nun mit westlichen Lehrern aus, die eine asiatische Tradition lehren und sie auch dadurch verkörpern ?  Was darf man von ihnen und  was können sie von ihren Schülern erwarten ?
Asiatische Körper-Geist-Disziplinen boomen heute mehr denn je: Kaum ein Actionfilm in dem der Held oder die Antagonisten nicht mit Karatetritten aufeinander losgehen, Wohnungen, Balkone und Gärten sind voll von Buddhafiguren und Yogaschulen schiessen immer noch wie Pilze aus dem Boden...
Das Internet trägt seinen Teil zur Popularität bei und schon haben wir Viele, die Experten in Allem und gar nichts sind, ausser, dass sie Klischees weitertragen und verbreiten helfen.
Dies macht es für uns westliche Lehrer von östlichen Traditionen sehr schwierig Interessierten den Unterschied zwischen einer authentischen Kampfkunsttradition und  z.B einem Sport wie zB Kickboxen oder MMA (Mixed Martial Arts) zu erklären. In einer pluarlistischen Gesellschaft in einer globalisierten Lebenswelt, in der Demokratie, Gleichstellung und Gleichberechtigung feste Bestandteile des Wertesystems sind, stellen die Ansprüche traditioneller Kampfkünste für viele Westler eine nicht überwindbare Hürde dar.
Zu gross ist die Vereinsmentalität, das Miteinander, das Gym-Feeling, welches den Interessierten oder gar schon Trainierenden geprägt hat, sodass grundlegende Verhaltensregeln, die in den alten Traditionen herrschen einfach nicht wahrgenommen werden.
Einige Schulen versuchen dies mit einer übertriebenen Form der Hierarchie und Disziplin auszugleichen – ein in meinen Augen fragwürdiges Unterfangen, da dadurch automatisch auch der zuvor angesprochene Machtmissbrauch wieder ins Bild rückt.

Verhaltensregeln, also sogenannte Do`s and Don`t sollen in einem nächsten Artikel thematisiert werden.

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